Ausstellung

Kreuzkirche Eisenach

WELTENWECHSEL

Weltenwechsel – Der deutsch-russische Maler Georg Schlicht (1886 – 1964) zwischen Saratow und Eisenach

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Nach dem frühen Tod der Mutter kümmerten sich die russischen Großeltern um den Jungen. Durch sie wurde er mit russischen Sitten und Gebräuchen vertraut, die ihm ein Leben lang teuer blieben. Das ist nicht selbstverständlich, denn im Durchschnitt waren die Russlanddeutschen zwar zarentreu und patriotisch, standen den Russen aber reserviert gegenüber. In Saratow 1902-1908 Als der Vater mit Sofija Dmitriewna Iwanowa eine zweite Ehe einging, vollzog er aus Sicht der Russlanddeutschen einen Schritt “unter Niveau”. 1902 siedelte die Familie nach Saratow über, die schon 1897 über 137.000 Einwohner zählte. Die 1590 neben Samara und Zarizyn als Festung gegründete Stadt sollte zunächst vor Überfällen der Reitervölker schützen und den Wasserweg von Kasan nach Astrachan sichern. Adam Olearius passierte Saratow auf seiner Reise nach Persien und widmete der Stadt eine Abbildung in seinen Reisebeschreibungen.

Adam Olearius. Moskowitische und Persische Reise. Die Holsteinische Gesandtschaft beim Shah 1633–1639. Hg. von Detlef Haberland. Stuttgart, Wien 1986, Seite 143

Adam Olearius. Moskowitische und Persische Reise. Die Holsteinische Gesandtschaft beim Shah 1633–1639. Hg. von Detlef Haberland. Stuttgart, Wien 1986, Seite 143

Deutsche Einwanderer kamen später aus Bayern, Baden, Hessen, der Pfalz und den Rheinlanden in so großer Zahl nach Saratow, dass nach Einführung der Semstwo 1864 deutsche Abgeordnete in der Stadtregierung eine Mehrheit hatten. Kulturell hatte Saratow zunehmend mehr zu bieten: bereits 1803 hatte die Saratower Oper ihren Spielbetrieb aufgenommen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wurde auch die bildende Kunst in der Stadt heimisch.

1885 wurde das Radischtschew-Kunstmuseum, eines der größten Museen russischer Kunst, gegründet, ein Jahr später folgte das Völkerkundemuseum. Zwischen 1889 und 1902 entfaltete die Gesellschaft der Liebhaber der Schönen Künste mannigfache Aktivitäten, darunter 1896 die Eröffnung der bald renommierten Bogoljubow-Kunstschule. Zu ihren Absolventen gehören so bedeutende Künstler der russischen Moderne wie Wiktor Borissow-Mussatow (1870–1905), Alexander Matwejew (1878–1960), Pjotr Utkin (1877–1934) und Pawel Kusnezow (1878–1968). 1904 fand im Gebäude der Adelsgesellschaft von Saratow die überregional bedeutende Ausstellung “Scharlachrote Rose” statt, auf der mit Borissow-Mussatow, Michail Wrubel (1856–1910), Sergei Sudeikin (1882–1946), Nikolai Sapunow (1880–1912) u.a. wichtige Künstler des russischen Symbolismus vertreten waren. Ob Georg Schlicht diese Ausstellung gesehen hat, ist nicht belegt, doch lassen spätere Gemälde von ihm keinen Zweifel daran, dass er sich ihrem Geist verpflichtet fühlte. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. In Saratow trat Georg Schlicht, der beruflich in die Fußstapfen des Vaters treten sollte, in das Gymnasium ein. Sein Herz schlug allerdings für die Kunst. Heimlich besuchte er die Bogoljubow-Kunstschule, was ihm den Verweis vom Gymnasium einbrachte, das er dennoch abschloss. Auf Drängen des Vaters schrieb er sich wahrscheinlich 1906 an der Chemisch-technischen Lehranstalt ein. In Saratow machte Georg Schlicht auch erste Erfahrungen mit dem orthodoxen Glauben, den er zwar nicht praktizierte, ein Interesse daran aber zeit seines Lebens bewahrte. Immer wieder griff er in seinen Bildern religiöse Motive auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, als wirtschaftlicher Aufschwung, soziale Spannungen und wachsende Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft Hand in Hand gingen, wurden im gesamten Russischen Reich zahlreiche Kirchen erbaut und prachtvoll ausgestattet. 1904–1906 wurde in Saratow die Kirche zu Ehren der Ikone der Gottesmutter “Lindere mein Leid” beim Haus des Bischofs von Saratow und Wolsk errichtet. Bei ihrer Gestaltung lehnte sich der Architekt, Pjotr Sybin, an die berühmte Basilius-Kathedrale in Moskau an, die Iwan IV. anlässlich der Eroberung von Kasan hatte erbauen lassen. Georg Schlicht sollte sie bald im Original sehen.